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MUSTER ALS FIGUR
Hanne Loreck

"Das Dekorative ist etwas sehr Kostbares an einem Kunstwerk. Es ist ein wesentlicher Bestandteil. Es hat nichts Abwertendes, wenn man von den Werken eines Künstlers sagt, sie seien dekorativ. Es ist charakteristisch für die moderne Kunst, daß sie an unserem Leben teilhat.“ (Henri Matisse, Über Kunst)

„[...] daß nämlich sich mit Ornament zu befassen ­ was auch immer Ornament sein soll ­ am Kern visueller Erfahrung rüttelt, da, wo dieser Kern nicht von Geschmack verdreht ist, von Snobismus, Ideologie, Konvention, kirchlichen oder politischen Einschränkungen, stilistischer Verkaufstaktik und allen anderen Arten von ‚Feinheiten‘, die die Gefühls- und Sinnesfreiheit jedes Betrachters hemmen.“ (Oleg Grabar, The Mediation of Ornament)

Wenn Ute Reeh ihr Projekt Muster nennt, so wählt sie einen mehrdeutigen Begriff. Er schwankt zwischen einem beispielhaften Schau- oder Probestück, gleichsam einem „Original“, das - so gesehen ­ einen gewissen, klassischen Kunstanspruch repräsentieren würde, und der allgemeinen Bezeichnung für eine in Wiederholung vorkommende Oberflächengestaltung, einer Textilie, eines Gefäßes. Beide Beispiele von Mustern haben mit Formen von Reproduktion und serieller Fertigung zu tun.

Muster finden wir im angewandten Bereich von Design und Kunsthandwerk, auf Tapeten gedruckt, in Stoffe gewebt oder als Teppiche geknüpft. Kommentierten wir allerdings unvorsichtigerweise ein Gemälde als „gemustertes Bild“, so disqualifizierte das die Kunst oder den/die SprecherIn, zumindest in Zeiten, in denen noch immer überlieferte Kriterien zu gelten scheinen, die eine eindeutige Unterscheidung von hoher und niederer Kunst, von freier und angewandter suggerieren. In diesem Sinn stellen Ute Reehs Muster auch ein Bewertungsraster, ein Muster der Kunstgeschichte auf die Probe, betrachten wir sie als ein Probe-Stück im traditionsreichen Disput um das zwiespältige Verhältnis zwischen dem Dekorativen und dem Abstrakten. Nicht nur, daß die Muster ebenso gut dazu geeignet scheinen, Tischdecken, Krawatten, Blusen und Sofabezüge zu zieren, die Vielfalt der Muster läßt sich durch mehrfaches Übereinanderschichten farblich wie formal variieren: In ihrer geradezu beliebigen Anwendbarkeit ziehen Ute Reehs siebgedruckte Entwürfe die Linie zwischen Abstraktion und Dekoration. Wenn ich von beliebiger Verwendung der Muster spreche, so sei die Beliebigkeit im Wortsinn verstanden: nach Lust und Zuneigung, die mit Intimität und Nähe zu tun haben, nicht im Sinne von Wahllosigkeit oder Unentschiedenheit.

Aus Schichten von farbigen Figuren bestehend, in ansprechender, reizvoller Farbigkeit gehalten, durchdringen sich Linien und Flächen, unhierarchisch, was vielleicht ein Kennzeichen des Dekorativen sein könnte, das es sich eben jenen dichotomen Kategorien widersetzt, die alle Wertungen in der Kunst ausmachen: oben/unten, rechts/links, bedeutsam/nebensächlich, wesentlich/oberflächlich, figürlich/abstrakt. Denn daß die Muster, aus der Ferne betrachtet, den Eindruck monochromer Flächen erwecken, ist eine raffinierte Posse mit den sogenannten revolutionären Epochen der Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts, die mit der Ausbildung und Differenzierung der Ungegenständlichkeit zusammen gesehen werden. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß die Flächen alles andere als monochrom sind: Dann erkennt man ein Gewimmel kleiner Figuren ­ Bacchanal oder Inferno all over ­ die sich ganz körperlich im sogenannten Wesentlichen, und damit Entleiblichten der Abstraktion tummeln, ja sich regelrecht suhlen.

Ute Reeh hat für Muster kleine, zum größeren Teil weibliche Figuren gezeichnet, die sie in Umrissen stilisiert oder flächig abstrahiert zu einem Rapport zusammenfügt, der beliebig oft wiederholt werden kann. Die Figurenelemente folgen nicht den Gesetzen der Schwerkraft. Nur der Bildraum hält sie da, wo sie sich uns visuell entgegenstellen, Linien und halbtransparente Farbflächen fixieren sie unter ihrem Netz. Mit der Wahl der Körperschemata für Muster ist einerseits der Bezug zur figurativen Kunst gegeben, jene Tradition aber gebrochen, der in unserem Jahrhundert gerne humanistische, ja überhaupt „Inhalte“ angedichtet werden. Darüberhinaus führen die Muster den Bewertungsstreit zwischen „konzeptueller Linie“ und „physischer eFarbe“ ebenso ad absurdum wie die ausschließende Konstruktion von Leiblichkeit/Materialität und Abstraktion. Als Gegenpole beherrschen sie die Moderne, wenn Malewitsch 1912 behauptet, die gegenwärtige Kunst verkörpere das zur Offenbarung gereifte Geistige, und 1923 feststellt, es gebe keine Materie als Körper. Das Dekorative aber rüttelt an der Unvereinbarkeit von Körper und Abstraktion, die bereits Gegenstand von Ute Reehs früheren Performance-Kommentaren (seit 1985) und den Rasterarbeiten (1993-95) war.

So tragen Muster zu einer neuen Wertschätzung des Dekorativen als der Möglichkeit bei, eine reizvolle, sinnliche Oberfläche nicht mehr als Hindernis wahrzunehmen, das angeblich irgendein Natürliches, Geistiges und Tugendhaftes ebenso verstelle wie der in der westlichen Kulturgeschichte körperlos konstruierten Abstraktion zuwiderlaufe. Denn das Dekorative ist da von Bedeutung, wo das Genießen und die Lust ihre immer unvollständige, wohl aber durch und durch gesellschaftliche Seite haben.

Wenn die Künstlerin ihre tanzenden, turtelnden Figuren aus der Privatheit eines Skizzenheftes in die großstädtische Öffentlichkeit überträgt und mit ihren Entwürfen großformatige Werbeflächen besetzt, dann stehen sich weder privates Begehren und öffentliche Verantwortung ausschließend gegenüber noch Körper und Abstraktion. Ihr Vorgehen umspielt nicht nur die Grenze zwischen Kommerz und „Kunst“, es thematisiert auch das oberste Ziel der Werbung: die „Deckung“ körperlicher Bedürfnisse im weitesten Sinn. Deckung sei dabei verstanden als: ein Bekleiden, ein Kaschieren wie zugleich ein Erzeugen von ­ wiederum kommerzialisierbaren ­ attraktiven Oberflächen, wie besonders Körper sie darstellen.

Ute Reehs Projekt, Plakatwände mit Figurenmustern zu überziehen, macht deutlich, in welchem Maß (Bild)Sprache und mate-rielle Dinge verzahnt sind und wie besonders die in aller Öffentlichkeit produzierte Normierung des Körpers zeigt, daß Erkenntnis nicht von Intimität zu lösen ist. Die Werbeflächen, alltäglich einer versuchterweise verführerischen Mischung aus visuellen wie verbalen Schlagwörtern vorbehalten, deren Wirkung subliminal wie „unter der Gürtellinie“ einsetzen soll, werden auf Zeit von einer figürlichen Sprache bewohnt, die mit den nackten (Frauen)Körpern das Ziel der Werbung benennt und auf heitere, lustvolle Weise das Verhältnis zwischen hoher und dekorativer Kunst ebenso hintertreibt, konterkariert wie den sich aus dem Zwang zum Erfolg ergebenden Ernst der Werbung. Zerlegen wir für diese Behauptung, etymologisch ganz unzulässig, einfach das Wort konterkarieren und bewahren wir das nunmehr verzerrte Karo, das Karierte, mit anderen Worten: das Muster auf.

© 1996 Hanne Loreck, Ute Reeh